Auge um Auge by Curd Nickel
Autor:Curd Nickel [Nickel, Curd]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-12-31T05:00:00+00:00
***
Es war am späten Abend, kurz vor dem Eintreffen des Nachtdienstes, als Gerhard Berger auf einem Stuhl neben der Zelle von Bartsch Platz genommen hatte. Wie in jedem Spätdienst kam er noch kurz vor seiner Ablösung zu den beiden Männern in Block ‚E‘, um mit ihnen die Feierabendzigarette zu rauchen. Dies war mittlerweile schon fast zu einem Ritual geworden. In der Runde war so etwas wie Vertrautheit eingekehrt, in der jeder stillschweigend an seiner Zigarette zog und dabei vor sich hingrübelte.
„Wie lange arbeitest du schon in der Klapse?“, fragte Bartsch völlig unverhofft.
„Ich …?“, meinte Berger erstaunt. „Fast zwanzig Jahre schon.“
„Und, hast du es bereut, Pfleger zu werden?“
„Eigentlich nicht. Wie kommst du jetzt darauf?“
„Hast du Familie? Frau, Kinder …“, fragte Bartsch weiter.
Berger schluckte. Wie ein Hitzeschwall durchfuhr es ihn.
„Nun …?“, forderte Bartsch weiter.
„Ich hatte eine Familie“, sagte Berger nach einer Weile leise. „Eine Frau und zwei süße Kinder“, dabei hatte er Mühe, die Tränen zu unterdrücken.
„Hatte …?“, kam die harte Frage.
„Ja, hatte“, antwortete Berger verbittert. „Beide Kinder wurden missbraucht und anschließend getötet. Meine Frau nahm sich daraufhin das Leben.“
„Ganz schön heftig“, nickte Bartsch und drückte seine Zigarette aus. „Und die Burschen, die das getan haben, sitzen die jetzt im Knast oder in der Klapse?“
„Keines von beiden. Sie laufen frei herum!“
„Dann wirst du wohl einfach nur das Pech gehabt haben, dass sie reich sind.“
„So ist es“, sagte Berger überrascht über die schnelle Kombinationsgabe von Bartsch.
„Du weißt, dass ich Gleiches getan habe?“, fragte Bartsch weiter.
„Weiß ich.“ Irgendwie war Berger gespannt, was jetzt kam.
„An Kindern habe ich mich nie vergriffen, das kannst du mir glauben“, beteuerte der Mann.
„Auch das weiß ich.“
Bartsch streckte seinen Arm aus und griff Berger an die Schulter. Dieser hielt jedoch still und versuchte keinerlei Anstalten der Abwehr.
„Glaub mir“, sagte Bartsch leise, „wenn es eine Pille gäbe, die mir meinen perversen Trieb nehmen könnte, ich würde sie sofort schlucken! Im Gegensatz zu diesen Verbrechern, die deine Kinder schändeten, bin ich krank. Wenn es über mich kommt, habe ich keinerlei Möglichkeit, mich dagegen zu wehren. Doch die, die dir das angetan haben, sind ganz miese Kröten, die nur die eigene Befriedigung im Kopf haben. Auch wenn das Selbe das Gleiche ist: Es gibt hier einen Unterschied!“
Berger schaute Bartsch lange an. Wie mochte dieser Mann wohl jetzt sein, wenn er nicht krank wäre?, ging es ihm durch den Kopf.
„Spürtest du nie Reue, wenn du deine Taten begangen hattest?“, fragte Berger schließlich. Dabei wirkte seine Stimme fast heiser.
„Reue …?“, fragte Bartsch bitter lächelnd. „Reue ist gar kein Ausdruck dafür! Hass empfinde ich, Hass auf mich selbst!“
„Du bist krank, Adolf“, wandte Berger ein. „Das mag so manches entschuldigen.“ Für den Mann empfand er jetzt aufrichtiges Mitleid.
„Da gibt es nichts zu entschuldigen, Gerd. Ich bin der letzte Abschaum und zu nichts wert!“
Auch Egon Schieber hatte in der gegenüberliegenden Zelle seine Zigarette mittlerweile ausgedrückt. Und trotz seiner erheblichen geistigen Behinderung schien er den Dialog verstanden zu haben. Er lächelte fratzenhaft und nickte dabei heftig.
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